Autoportrait I

2004
Schön sinnlos
Notizen zu den Arbeiten von Vanessa Henn
 
 
1. Finden
 
Wie lange dauert ein schottischer Winter? 72 einzelne Handschuhe lang. Wenigstens ist das die Zeitrechnung der Künstlerin Vanessa Henn. 72 lederne oder wollene Fingerhandschuhe und Fäustlinge – einzelne Teile eines ehemaligen Paares, verloren gegangen im alltäglichen Allerlei – hat Vanessa Henn über Monate hinweg gefunden, aufgehoben und eingesammelt in eben jenem Stadtteil, in dem sie in Edinburgh wohnte, als sie für ein Jahr das College of Art besuchte. Aus diesen 72 Fundstücken, die ohne ihr Pendant sinnlos geworden waren, entstand Vanessa Henns erste konzeptuelle Arbeit, in der sich Zufall und Absicht, subjektive Erinnerung und fragmentarisches Objekt, Witz und Ernst, abstrakte Form und Geschichtenerzählerei, Sinn und Sinnlosigkeit scheinbar unkompliziert verbinden. In der sich die Künstlerin den Menschen nähert, ohne ihnen zu nahe zu kommen, in der sie einen Ort erkundet, ohne ihn auf den ersten Blick sichtbar zu verändern, in der sie von sich selbst berichtet, ohne tatsächlich etwas preiszugeben.
 
Das war 1995. Vanessa Henn war 25 Jahre alt, Studentin der Stuttgarter Kunstakademie, auf dem Weg sich von der Malerei zu lösen und das Spiel als eine Möglichkeit des künstlerischen Konzepts sowie umgekehrt das Konzept als eine Möglichkeit des künstlerischen Spiels zu entdecken. Glaubt man an den Zufall, so markiert wohl jener erste von Vanessa Henn absichtslos aufgesammelte Handschuh den Beginn einer noch jungen künstlerischen Entwicklung, die von da an einen klaren, eigenwilligen, von Moden unabhängigen Weg genommen hat. Einen Weg, in dem der Blick das Alltägliche streift, um das Besondere zu finden.
 
 
2. Bewegen
 
Heute, neun Jahre später, stellt Vanessa Henn ihr eigenes Auto  –  einen kleinen Transportlaster, der sonst mit lauter persönlichem Krimskrams angefüllt ist– leer geräumt so auf die Terrasse des Kunstvereins Ettlingen, dass von der einen Seite zur anderen, quer durch das Fahrerhaus, ein von ihr angebrachtes und am Boden befestigtes Geländer verläuft, genauer: ein Handlauf, wie man ihn von Treppenhäusern überall auf der Welt kennt, der hier aber keinerlei Funktion erfüllt. Man kann nicht an ihm entlang laufen, und es gibt keinen Grund, sich angesichts des geparkten Autos irgendwo festzuhalten. Stattdessen ist der Wagen, von dem die ganze Mobilität der Künstlerin abhängt, einfach ausgebremst, sinnlos angekettet. Er kann weder vor noch zurück bewegt werden, ist zum Stillstand verdammt, für einige Ausstellungswochen unbenutzbar geworden. Für jemanden wie Vanessa Henn, die immer unterwegs ist, dauernd auf der Suche nach Neuem, Anderem, Unbekanntem, muss diese Arbeit ein Opfer gewesen sein. Nichts ist für sie nun einfach transportierbar, kein Material, keine Arbeit, kein Gepäck – und auch nicht sie selbst. So hat sie diese Arbeit ironisch-doppeldeutig „Autoportrait“ genannt.
 
Tatsächlich erzählt die Installation (wie alle ihre Arbeiten) auch ein wenig von Vanessa Henn selbst, von ihrem Drang nach Bewegung und ihrer gleichzeitigen Stetigkeit, die sie immer wieder zu Bekanntem zurückführt; von ihrem Wunsch, sich in der Fremde (Stipendien führten sie nach Schottland, Neuseeland, Russland und Frankreich) neu zu erfinden, und der Sehnsucht, einen festen Ausgangspunkt zu haben. Dieses „Selbstbildnis“ oder „Bildnis eines Automobils“ zeigt die Ironie, den Witz, die Distanz, mit denen die Künstlerin auf ihr eigenes Leben blickt und die zu einem markanten Kennzeichen ihres Arbeitsprozesses geworden sind. Und doch: die ganzen persönlichen Kleinigkeiten (Glimmer und Kitsch), die in dem Auto sonst herumliegen, und die, sieht man Vanessa Henn auf der Straße heranfahren, wie kleine, bunte Trophäen im Licht glitzern, wurden entfernt. Jede zu persönliche Anekdote wird vermieden, reduziert, neutralisiert. Ihre Kunst mag spielerisch sein, verspielt ist sie nie.
 
In diesem Sinn schaut Vanessa Henn auf die Dinge ihres Lebens als Teile des Lebens an sich, und sie sieht zugleich den surrealen Zauber, der sich dahinter verbirgt, nimmt man ihnen ihren direkten, alltäglichen Nutzen. Es überrascht kaum, dass sie viele ihrer künstlerischen Einfälle kurz vor dem Einschlafen hat, zwischen Wachen und Träumen, in einem Zustand, in dem – bei körperlichem Stillstand – die Sinne sich zu öffnen zu scheinen für das Rauschen, das sich hinter der sichtbaren, rational erklärbaren Welt verbirgt.  
 
Die Türen des festgesetzten Autos stehen offen.
 
 
3. Markieren   
 
Handläufe, wie jener im „Autoportrait“, tauchen seit zwei Jahren in Vanessa Henns Schaffen auf. Sie ziehen sich Wände entlang, kreisen um Pfeiler, umschreiben Flächen und Räume, sie zeichnen Geraden, Schwünge und Spiralen durch Ausstellungshallen, markieren Höhen und Tiefen, Längen und kurze Distanzen. Mal erinnern sie in ihrer fragmentarischen Isoliertheit vage an bekannte Raumsituationen (wie „Foyer“), mal an Comicbilder (wie „bunny“) oder an abstrakte Vorgänge (wie „Gedankengang“ oder „...und behaupte das Gegenteil“). Mit diesen plastischen Linien gliedert Vanessa Henn Räume und Wände, gibt Bewegungsrichtungen vor, dynamisiert die starre Architektur. Der Betrachter kann nicht still stehen bleiben vor diesen mit farbigem PVC bezogenen Stahlgeländern, diesen bunten Spuren einer Bewegung: rot, blau, weiß, braun, golden. Vanessa Henn verführt das Auge und die Hand, die plötzlich entdeckt, wie schön diese Handläufe sich anfühlen. Ein einfacher Gegenstand, mit dem jeder täglich in Berührung kommt, offenbart nun – scheinbar funktionslos geworden – haptischen Reiz.
 
Die Wurzeln für dieses Verständnis von Kunst sind – geht man die Kunstgeschichte einige Jahrzehnte zurück – im Surrealismus eines René Magritte oder einer Meret Oppenheim zu finden; später in der Pop Art eines Claes Oldenburg, dann in den Objekten eines Richard Artschwager. Auch dessen Arbeiten leben von der Spannung zwischen Funktionalität und Funktionslosigkeit; auch er spielt mit dem aus seinem Zusammenhang gelösten Gebrauchsgegenstand, um auf dessen reine Form aufmerksam zu machen; Humor und Ironie sind dabei Methoden, den Betrachter zu irritieren. Vanessa Henn nimmt diese Prinzipien auf und führt sie weiter in die Welt des 21. Jahrhunderts. Dabei gibt sie ihren künstlerischen Objekten, die immer auf den Alltagsgegenstand anspielen (daher nie abstrakt sind), aber nie mit ihm identisch sind, einen poetischen Charme wieder, den sie in der Normalität des trivialen Lebens verloren haben.
 
 
4. Benennen
 
Ein Teil dieser Wirkung geht zurück auf das Wort. Vanessa Henn zieht sich nicht auf das derzeit übliche, unverbindliche „Ohne Titel“ zurück, sondern sie benennt ihre Arbeiten. Und mit eben diesen Titeln eröffnet sie für den Betrachter eine weitere Bedeutungsebene, die den rätselhaften Aspekt bei der Rezeption verstärkt: Vanessa Henn entzieht sich den Zuordnungen, zitiert, nimmt auf, verarbeitet, kommentiert, ironisiert, was an kunstgeschichtlichem Wissen und alltäglicher Dingwelt existiert, und sie entwickelt daraus ihre eigene künstlerische Sprache, in der die nüchterne „visual geometry“ ihrer Klinkerfenster genau so auftaucht wie „Ein Traum – ein Leben“ – eine assoziationsreich überzeichnete Fotografie.
 
Gerade an ihren Zeichnungen und Collagen, die selten Konstruktionszeichnungen sind, sondern meistens phantasie- und humorvolle, eigenständige Arbeiten, die in der Tradition des Surrealismus stehen, wird deutlich, wie wichtig das kleinste Detail für Vanessa Henn ist, wie sorgfältig ihr Blick, wie unkonventionell und frei ihr Umgang mit dem, was sie sieht. Doch es zeigt sich auch, dass diese Leichtigkeit kein Ergebnis eines schnellen Arbeitens ist, sondern dass der scheinbaren Selbstverständlichkeit, dem Reiz des Unverkrampften ein langer künstlerischer Prozess vorangeht, dessen Ergebnis schließlich ist, dass man ihn fast nicht mehr wahrnimmt. Das Ende erscheint so offen, wie der Anfang es war.
 
 
5. Verändern
 
Ein Auslöser für die künstlerische Projektion und Phantasie von Vanessa Henn ist oft der Ort, der zur Ausstellungsbühne wird. In dem Ausstellungsraum des Stuttgarter Künstlervereins Oberwelt hat Vanessa Henn zum Beispiel die weiß-blauen Kacheln des Fußbodens mit zunächst gleich aussehenden weiß-blauen Teppichfliesen zugedeckt und so den ganzen Raum, der durch eine Art Schaufester einsehbar ist, ausgelegt. Wo heute ein Ausstellungsraum ist, war einst eine Wäscherei. Die rautenförmigen, kühlen, leicht abwaschbaren Bodenkacheln sind von damals übrig geblieben. Keiner dachte mehr daran. Für die Besucher der Ausstellung von Vanessa Henn schien der Raum daher zunächst leer, bis sie ihn betraten und spürten, dass das, was sie aufgrund der optischen Erfahrung erwarteten – einen harten, hallend klingenden Kachelboden –, nicht mit dem übereinstimmte, was sie wahrnahmen, nämlich einen weichen, den Klang der Schritte schluckenden Teppichboden.
 
„Tread softly“ hat Vanessa Henn diese Arbeit von 2001 genannt, die kennzeichnend für ihr Vorgehen ist: Ausgelöst durch die Irritation der Sinne, nimmt der Betrachter die Umgebung, den Ort, dessen Geschichte, seine eigene Situation innerhalb der Ausstellung sowie Klang, Licht, Geruch und vieles mehr anders, weil neu sensibilisiert wahr. Um dies zu erreichen, braucht Vanessa Henn nicht die große Geste, es genügt der kleine Eingriff, die minimale Verschiebung, die zunächst kaum erkennbare Veränderung. Voraussetzung für diesen Prozess ist ihre eigene, empfindsame, sensitive Wahrnehmungsfähigkeit, die im Nebensächlichen das Entscheidende erkennt.
 
Das gilt auch für die Klinkerarbeiten, die seit einem Aufenthalt in Norddeutschland entstehen und auf die dort verbreitete Wohnhausarchitektur anspielen. Wieder setzt Vanessa Henn ein Irritationsmoment ein, um den Betrachter neu einzustimmen. In diesem Fall klebt sie Klinkerriemchen-Imitationen, wie es sie in jedem Baumarkt gibt, nicht  –  wie zu erwarten wäre  –  auf das Mauerwerk, sondern auf die Fenster. Licht und Schatten zeichnen nun im Innern des Zimmers die frei stehenden Linien zwischen den Steinimitaten nach, Lineaturen, die bei echten Klinkermauern eigentlich durch den Putz zwischen den Steinen entstehen. Die im Tagesverlauf mit dem Licht wandernden Schattenornamente rhythmisieren und verwandeln den Raum. Das, was zunächst einfach wie „visual geometry“, wie ein geometrisch reizvolles, abstraktes Kunstwerk, erscheint, eröffnet bei jedem Betrachter andere Assoziationen. Die Balance zwischen formaler Reduktion und erzählerischem Impuls ist wohl auskalkuliert.     
 
 
6. Schreiben
 
In jüngster Zeit spielt auch die Schrift als plastischer Körper eine größere Rolle im Schaffen. „the big o.e.“ – die große „overseas experience“ – kann man zum Beispiel in dem gemauerten Schriftzug lesen, der nun für die gleichnamige Ausstellung des Kunstvereins Ettlingen entstanden ist. Doch wie schon in den früheren Klinkerarbeiten ist auch in diesem Fall die Mauer ein Fake, eine reine Kulisse, aus billigen Pappresten zusammengesetzt und mit Klinker-Verblendungen beklebt. Die ganze Konstruktion wird von Holzstreben gehalten, und was von vorne so stabil und eindrucksvoll aussieht, entpuppt sich von hinten als schale Attrappe.
 
Vanessa Henn spielt damit auf die Werbeschriftzüge an, die man neonfarben leuchtend manchmal auf Häuserdächern oder – vor allem in den USA – an Straßenecken findet. Und sie benutzt für dieses mehrdeutige Spiel mit den Illusionen des Betrachters eine Redewendung, die in Neuseeland üblich ist: Mit „the big o.e.“ bezeichnet man die große Reise nach Übersee, die einmal im Leben stattfindet und nach deren Erfahrung  man für den Rest seines Lebens zurückkehrt in die Heimat.      
 
 
7. Entdecken
 
Dass Mauern Schauplätze „immerwährender Veränderungen“ sind, dass die Zeit ebenso wie die Menschen ihre Spuren an Wänden hinterlassen und diese für die Kunst Inspiration und Reiz sein können, hat schon  Brassai in seinen Studien über Graffiti erläutert. Er stellt dabei fest, dass durch die Veränderungen, welche die Natur am Stein hinterlässt – „diese erstaunliche Künstlerin ‚Natur’“ –, die gewohnte Sehweise des Menschen verwandelt werde. Und er warnt mit einem Verweis auf Poliakoff: „Gemälde an der Wand – gut; aber aufgepasst, dass die Wand selbst nicht schöner ist...“
 
Vanessa Henn steht in dieser Tradition und belebt die Kunst, die in den Wänden steckt, doch auf eine neue Art und Weise. Sie kratzt nicht im üblichen Sinne hinein, sie malt oder sprüht nicht darauf. Ihre Bilder verstecken sich quasi in der Struktur der Mauer selbst. „sonntags nie“ ist dafür ein Beispiel – wenn auch eines, das nur als Fotomontage existiert und nie ausgeführt wurde. Das Bild zeigt den Ausschnitt einer Klinkermauer, doch die verputzten Linien zwischen den roten Steinen verlaufen nicht so gerade, wie erwartet, vielmehr setzen sie sich – erst nach und nach erkennbar – zu einer eigenen Zeichnung zusammen: Man sieht zwei Beine – vom Schenkel bis zur Fußspitze – einer auf dem Bauch liegenden Figur, die übereinander geschlagen hin und her wippen. Mitten in der tristen Mauer taucht so plötzlich ein Bild von Entspannung und Freizeit auf, der Traum eines Maurers vielleicht, der während der Arbeit plötzlich einer sonntäglichen Erinnerung nachhing, ein Mädchen sah oder an sich selbst beim Lesen auf der Wiese dachte. Es ist nur eine Ahnung, ein leichtes Versetzen des Üblichen, ein Konterkarieren des Erwarteten – doch daraus entsteht eine Geschichte.
 
In Straßburg soll nun die erste Mauerarbeit von Vanessa Henn realisiert werden – an der Wand eines ehemaligen Toilettenhäuschens. Daher der Titel: „messieurs“. Die Mauer ist zweifarbig: ein helles inneres Rechteck wird von einem dunkleren Rahmen umgeben. Vanessa Henns Mörtelzeichnung überschreitet die Farbgrenzen, sie zeigt zwei Füße, die sich zärtlich berühren. Der eine Fuß liegt unter dem anderen, der Zeh spielt mit der Verse, und der obere Fuß berührt die Fessel des anderen. Es ist das Bild einer vorsichtigen, aber vertrauten Begegnung, eine kleine, poetische Anekdote im hektischen Stadtbild.
 
Das Konzept für diese Arbeit entstand während des dreimonatigen Stipendienaufenthalts, den das Land Baden-Württemberg Vanessa Henn ermöglichte. Partner des Austauschprojekts ist das Kunstzentrum CEAAC in Straßburg. Dass Vanessa Henn gerade an diesem Ort ihre erste Mauerarbeit umsetzen kann (dank der Unterstützung der Straßburger Kollegen), mag (mal wieder) ein Zufall sein. Dass es das Bild einer Begegnung ist, das hier entsteht, macht diesen Zufall vieldeutig: Denn Straßburg ist Grenzstadt, hier berühren sich zwei Länder, deren gemeinsame Geschichte nicht immer friedlich war. Und: für beide Länder haben Mauern eine große historische Bedeutung. Für die Deutschen die Mauer zum Osten, für die Franzosen jene Mauer, mit deren Zerstörung die französische Revolution begann: die der Bastille.
 
Vanessa Henns Mauerbild erzählt davon, wie man miteinander vertraut werden kann: leise, vorsichtig, spielerisch, heiter – einfach und nah.
 
Denn: wie weit sind zwei Menschen voneinander entfernt? Zwei Fußlängen weit.
 


Petra Olschowski