Drop

2010
Polyuretanschaum, glasfaserverstärkter Kunstharz, 2010 Heidenheim, 2012 Lech, Österreich
180 x 245 x 430 cm

Skulpturenpark Katzow
„Drop“
 
Mein Vorschlag für das Bildhauersymposium Heidenheim ist eine Skulptur in Form eines durchgekauten und ausgespuckten Kaugummis. Inspiriert wurde die Idee durch die Möglichkeit, die Technologien eines kunststoffverarbeitenden Unternehmens zur Realisierung des Projekts zu nutzen. Als Standort stelle ich mir eine zentrale und belebte Stelle in der Heidenheimer Innenstadt vor. Die Skulptur soll scheinbar zufällig wie ein Alien in der Fußgängerzone, vor einem Fastfoodrestaurant oder einem anderen, vornehmlich von  jugendlichen Heidenheimern frequentierten Hang-Out landen. In Kooperation mit der Firma C. F. Maier plane ich die Ausführung der Skulptur in pink durchgefärbtem glasfaserverstärktem Kunststoff.
 
Die Herkunft der Form aus einem durchgekauten Kaugummi ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich. Wird ein winziger Materialklumpen ins Gigantische skaliert, so wird dessen Form verfremdet und die Wahrnehmung des Betrachters zunächst auf eine andere Fährte geführt. So birgt die Skulptur Anklänge an Henry Moores „Reclining Figures“, an die „Nanas“ von Niki de Saint Phalle, die ironischen Stahlskulpturen von Franz West oder die glatten Edelstahlballons von Jeff Koons. Sie zitiert die Haltung der „drop-sculptures“ der 1960er und 1970er Jahre, als Skulpturen im öffentlichen Raum noch eine autonome künstlerische Setzung bedeuteten und unabhängig von ihrem Umraum konzipiert waren. Sie ist aber auch wie ein Stadtmöbel benutzbar und bietet sich den Passanten als Sitz- oder Spielgelegenheit an, ohne jedoch explizit ergonomisch gestaltet zu sein. Die Wirkung ihrer Oberfläche und Farbigkeit changiert zwischen Attraktion und Abstoßung. Die Skulptur wird somit zu einem Diskurs über Kunst im öffentlichen Raum und reflektiert deren Entwicklungen und Rezeption der letzten Jahrzehnte, kaut sie gewissermaßen wieder.
 
Das Kaugummi Kauen gilt zudem als Ausdruck einer rebellisch-nihilistischen Haltung der Jugend- und Popkultur. Der orale Gestus verweist auf das Sprechen, ohne jedoch konkrete Begriffe zu formen. Sprechen und Kaugummi kauen stehen im Widerspruch zueinander. Das demonstrative Kaugummi Kauen wird als eine provokante Haltung des „Nichts Sagens“ wahrgenommen. Hin und wieder gelingt eine blasse Blase, die jedoch bald zerplatzt und sich als müde Haut über das Gesichtsfeld legt. Musste man in der Schule auf eine Frage antworten und hatte einen Kaugummi im Mund, konnte er unbemerkt und gefahrlos - und mit ihm die rebellische Haltung - hinuntergeschluckt werden. Ist der Geschmack des Kaugummis durch das wiederkäuende Drehen und Wenden schließlich fade geworden, entledigt man sich seiner. Er wird ausgespuckt oder irgendwo hingeklebt, wird breitgetreten, haftet an den Sohlen der Passanten, zieht Schmutz und Dreck an sich: ein klebriges Übrigbleibsel pubertärer Konsum- und Verweigerungshaltung. Wie groß wäre der Klumpen an Kaumasse, der durch Addition aller pro Jahr in Heidenheim durchgekauter Kaugummis entstehen würde?
 
Bei näherer Betrachtung erkennt man schließlich in der organisch geformten Oberfläche der Skulptur die Kauspuren meiner Backenzähne, die das Objekt als Ergebnis und Endpunkt eines individuellen künstlerischen Aneignungs- und Wandlungsprozesses interpretieren. Dieser Endpunkt kann als der Beginn von etwas Neuem gedacht werden. „Drop“ ist die ironische Metapher einer Auseinandersetzung mit traditionellen, rebellischen und popkulturellen Konzepten von Kunst im öffentlichen Raum.
Nichts wird jedoch breitgetreten oder heruntergeschluckt. Die Skulptur visualisiert den Moment, an dem Sprechen wieder möglich wird und wir durch das lange Wiederkäuen plötzlich Hunger bekommen auf etwas Substanzielles.


Vanessa Henn